So Nicht

20. November 2020

Seit Wochen bin ich schon wieder zu Hause. Alles, was mir Freude macht, ist weg. Ich treffe niemanden, kann nicht ins Kino gehen, Kaffeehäuser besuchen, Konzerte spielen oder moderieren, Fortbildungen halten, schwimmen gehen, mir ein gutes Menü mit Freundinnen oder Kollegen vergönnen, kann nicht selbst Gastgeberin sein. Wann ich meine 88-jährige Schwiegermutter in Bochum wieder sehen werde, ist ungewiss. Nach Deutschland zu fahren, um dort 14 Tage in Quarantäne zu verbringen, erscheint mir undurchführbar und sinnlos.

 

Das Festival Wien Modern wurde mir genommen. Das Leitungsteam war zuversichtlich: „Gehen Sie ins Konzert, das ist ein sicherer Ort.“ Ein angeblicher Lockdown light beendet den Festival-Monat nach nur vier Tagen. Ich bin sprachlos. Ausgerechnet jene, die jeden Schritt und jeden Handgriff sowohl vor als auch hinter der Bühne nachvollziehbar gemacht haben, sollen als Erste aufhören zu arbeiten? Publikum, das sich bereitwillig registrieren lässt, Maske trägt, Abstand hält, besonnen und rücksichtsvoll agiert, um Konzerte erleben zu dürfen, wird als „kulturverliebt“ abgetan und soll verzichten – nach bereits acht Monaten Verzicht? Musiker*innen, die seit Monaten üben, sich vorbereiten, ihre Arbeit erneut „verschieben“, denn absagen tun wir ja nicht, die Bezahlung wird gleich mitverschoben. Veranstalter*innen, die sich monatelang mit Sicherheitskonzepten herumgeschlagen haben, die in Desinfektion, Schnelltests und Personal investiert haben – bei reduziertem Kartenkontingent –, werden „stillgelegt“. Die Infektionszahlen bleiben davon relativ unbeeindruckt. Doch die stimmen ja ohnedies nicht, das elektronische Meldesystem ist ausgelegt für 7.000 Meldungen pro Jahr und muss nun mit tausenden Datensätzen pro Tag zurecht kommen. Man hätte es natürlich neu aufsetzen können in jenen Monaten, in denen die Veranstalter*innen ihre Sicherheitskonzepte ausgearbeitet haben.


Dann werden Stimmen lauter, die die Schulen schließen möchten. Interessanterweise sind es dieselben Mathematiker und Physiker, die bereits Ende März 100.000 Tote für den Kanzler errechnet haben, die am lautesten für Schulschließungen trommeln. Gewichtige Stimmen treten dafür ein, Schulen und Kindergärten offen zu halten. Die Lehrkräfte werden dazu nicht gehört. Wie beim Festival Wien Modern bin ich zuversichtlich. In der Musikschule, in der ich arbeite, haben wir seit April ein Sicherheitskonzept: Die Stundenanfänge sind versetzt, die Kinder begegnen einander nicht, es gibt fünfminütige Pausen zwischen den Unterrichtseinheiten zum Lüften und Desinfizieren, die Räume sind groß genug und mit Plexiglas-Stellwänden ausgestattet, die Kinder kommen einzeln, tragen MNS …


Pardauz. Nun sitzen auch wir zu Hause.

 

Derweil verkündet der Kanzler Massentests. Dabei schaffen sie es nicht einmal, in den Einrichtungen, für die Tests wirklich wichtig wären, vernünftig zu testen. Die Zahlen steigen weiter. Die Musikschulverantwortlichen waren bereits im Frühjahr nicht besonders hilfreich, ja zu Beginn wurden sogar eher seltsame Meldungen über das Distance Learning verbreitet (woher zum Beispiel die Behauptung genommen wurde, dass in ganz Niederösterreich „nur 30 Lehrkräfte“ nicht online unterrichten würden, sei dahingestellt.)
https://noe.orf.at/stories/3041405/
In dem Artikel vom 25. April klang das dann doch schon reflektierter:
https://noe.orf.at/stories/3045700/

 

Nein, liebe Leute, Klavier, Geige, Harmonike, Flöte über Zoom, Google Duo, Skype, Whatsapp, Whereby, Wire etc. – klingen einfach unerträglich. Und flugs werden Musikschulen zu „Freizeiteinrichtungen“ erklärt. Wären sie Ausbildungsstätten, könnten sie nämlich offen bleiben, wie die Schulen auch. Und dazu der Ausdruck „Die Schulen stellen um auf Home-Schooling“, als gäbe es eine parallele Unterrichtsform, die einfach nur eingeschaltet werden muss. Fernunterricht braucht viel Vorbereitung, noch mehr Kraft und vor allem Vertrauen. Doch da rechnen wir lieber herum, ob 50 Minuten Flötenunterricht per Skype genau so viel „wert“ sind wie Audiofiles, die hin und her geschickt werden – na, Hauptsache, die Lehrkräfte arbeiten und die Eltern zahlen. Wie es den Kindern geht, interessiert sowieso keinen, immerhin gab es ja früher auch Kinder, die Bombenangriffen und Hunger ausgesetzt gewesen sind, so schlimm kann es also nicht sein (Quelle: Kommentare zum Artikel
https://www.derstandard.at/story/2000121681466/psychiaterin-den-kindern-geht-es-zunehmend-schlechter?ref=article)

 

Die Lehrkräfte werden auf technische Fähigkeiten reduziert. In jedem Bericht, jedem Interview wird gefragt, ob sie sich diesbezüglich mittlerweile wenigstens fortgebildet hätten. Leute, technisch habe ich es im Griff, ja sogar investiert in elektronische Geräte, Mikrofone, Kameras, Internet – Dienstmittel, die mir eigentlich zur Verfügung gestellt werden müssten. Was es psychisch macht, wenn man das Gefühl hat, alles Erdenkliche zu unternehmen, um sicher musizieren zu können, und parallel dazu steigen die Infektionen genau dort, wo es gefährlich ist, weil in Pflegeheimen wieder keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen worden sind, fragt niemand.


Ja, die Kontakte müssen reduziert werden, das habe ich schon lang verstanden, doch ich kann nicht noch mehr reduzieren. Ich war immer gerne allein, doch so isoliert wie 2020 war ich noch nie. Und was ist das für eine Gesellschaft? 8.000 Leute dürfen ins Möbelgeschäft, eine Lesung am selben Tag, zu der ganze 15 Personen mit Abstand angemeldet und zugelassen gewesen wären, darf nicht stattfinden.

 

Meine Ohren singen seit Ende April. Ich bin dem Tinnitus mit viel Geduld und Aufwand begegnet. Seit Tagen höre ich die Flötentöne wieder online. Kann wieder nicht schlafen, ertrage plötzlich keine Stille, höre buchstäblich den Strom durch die Leitungen rauschen und sehe kein Licht am Ende des Tunnels.
Cordula Bösze, 20. November 2020, 03:12

 


Leb Wohl, Florian Flicker

Sonntag, 24. August 2014

Florian Flicker. ©APA/Herbert Pfarrhofer
Florian Flicker. ©APA/Herbert Pfarrhofer

Leb wohl, Florian Flicker. Drei Jahre sind es nun ziemlich genau, dass A. gegangen ist. Gestern hast du vorzeitig die Spielfläche verlassen müssen, quasi zu Beginn der zweiten Halbzeit. Im Nirvana muss wohl ein Kongress der Filmemacher sein, zu dem sie dich dringend holen mussten, Michael Glawogger ist ja schon dort.

 

August: die begabtesten Menschen gehen in diesem Monat, Christoph Schlingensief und John Cage sind auch im August gestorben.

 

Die Mauern der Burg Raabs sind angefüllt mit Erinnerungen. Pralles Leben voller Literatur, Musik, Geist, wilder Parties und heimlicher Langeweile. Suzie Washington, projiziert in die eiskalte Augustnacht, wann war das? 1998 oder bereits im Jahr zuvor? Meine Faszination beim Durchstreifen der alten Gemäuer ist nach wie vor abrufbar. Später der Workshop mit Schüler/innen in Zwettl, Filmnacht mit No-Name-City, Diskussionen über die Blödheit und doch auch Haltung von Hansi Waterloo Kreuzmayr. Der Überfall im Filmclub Drosendorf, Halbe Welt ebendort und genau vor einem Jahr Grenzgänger. Immer haben wir uns gefreut, wenn du gekommen bist, wenn du es einrichten konntest, warst du da und wolltest wieder kommen. Die Diskussionen waren anregend, spannend und voller Humor.

 

Die Strudlhofstiege im Schauspielhaus. Ich war überzeugt, dass die bezaubernde Frau an deiner Seite Schauspielerin sein muss. Dabei arbeitet sie bei Paulus Hochgatterer in der Kinderabteilung in Tulln, was für Verbindungen!

 

Bei mir ums Eck hast du gewohnt und warst manchmal im Eissalon, bevor Du zum Praterstern gezogen bist. Nun bist du ganz weg und ich will es noch nicht wahrhaben. Heute in Raabs hatte ich den Eindruck, dass die dicken Burgmauern Geschichten und Gefühle speichern, dass sie je nach Laune die alten Bilder abspielen können, wie Filme. Vermutlich tun sie das im Winter, wenn keiner da ist, dann tanzen wir alle wieder ausgelassen in der Taverne, die Bäuche voll mit gutem Essen und die Köpfe voller Pläne.

 

Leb wohl, Florian, wir vermissen dich.

 


Große Liebe

Ferry Radax

Dieser Eintrag stammt aus dem Jahr 2010. Ferry Radax ist am 9. September 2021 verstorben. Ich denke gerne an die Begegnungen mit ihm.

Dominik Steiger in: Große Liebe von Ferry Radax. Schönbrunn 1966
Dominik Steiger in: Große Liebe von Ferry Radax. Schönbrunn 1966

Schönbrunn, Tirolergarten, Spielhütte des Kronprinzen Rudolf. Der Film: Große Liebe, 1966.

 

Der Macher: Ferry Radax, * 1932. https://www.ferryradax.at/film/film.htm

 

Was, der lebt noch?“, wird zumeist gefragt, wenn sein Name fällt. Ja, er lebt noch, in Hollenburg bei Krems – und es geht ihm nicht gut nach einem Schlaganfall. Nun kann er, der nächtelang erzählen konnte und dessen Erlebnisse für mehr als 1000 Nächte taugen würden, kaum noch sprechen.

 

Stundenlang haben Martin Anibas und ich bei einigen guten Flaschen Rotwein im Dezember 2008 in der blaugelben Galerie Zwettl gelauscht. Nachdem das Publikum gegangen war, öffnete der eloquente Mann seine Schatzkiste, sprach von Dichtern, Inseln, Frauen, realisierten und unrealisierten Projekten.

 

Über Sonne halt! (1962) haben wir nicht gesprochen, den habe ich mir allein angeschaut und tue es immer wieder gern, wie auch

H. C. Artmann (1967) und Thomas Bernhard – Drei Tage (1970). Den Film über Wolfgang Koeppen würde ich gern einmal sehen und den Werbefilm über die Schindler-Aufzüge in der Schweiz (1960). Gemeinsam mit Kurt Kren, über den hier auch noch gesprochen werden wird, zählt Ferry Radax für mich zu den vielseitigsten Lieblingsfilmkünstlern.

 

In Zwettl hatte Ferry Radax einen Weihnachtsbaum im Auto. Seine Wünsche zur guten Nacht waren höchst schmeichelhaft.